Helmut Schmidt zur massiven Vergeltung
"Die offizielle, bisher nur andeutungsweise revidierte Nato-Doktrin geht im Gegensatz dazu davon aus,
daß jeder militärische Konflikt in Europa den nuklearen Konflikt auslösen würde.
Sie sieht die Aufgabe der europäischen Heeresverbände darin, einen Vormarsch der sowjetischen Armee so lange zu hemmen,
bis die massive Vergeltung ihre Wirkung erzielt hat. Dabei hat man sich in den vergangenen Jahren
zur Charakterisierung dieser Aufgabe der Heeresverbände sogar des Ausdruckes »Stolperdraht« (trip-wire) bedient,
und Kissinger hat die Funktion der englischen und der amerikanischen Truppen auf dem Kontinent
sogar als »Geisel«-Rolle definiert, die darin bestehe, daß die zwangsläufige Verwicklung dieser Truppen
in den militärischen Konflikt auf jeden Fall das nuklear-strategische Eingreifen Englands und der USA sicherstellen solle.
Die Zweifel an der Richtigkeit dieses Konzepts sind so alt wie die Zweifel an der Brauchbarkeit des Konzeptes
von der massiven Vergeltung überhaupt. Sie reichen zurück in die Entstehungszeit der These vom begrenzten Krieg.
Aber selbst für den von der Nato unterstellten Kriegsablauf in der Form eines mit strategischen Nuklear-Waffen total
geführten Blitzkrieges erscheint der Westen nicht ausreichend vorbereitet. Seit geraumer Zeit rechnen viele Strategen,
insbesondere natürlich auch die amerikanische Marine, mit der Eventualität eines lang hingezogenen Krieges
»mit gebrochenem Rückgrat« (broken back warfare), falls ein anfänglicher nuklearer Schlagabtausch
nicht dazu geführt haben würde, eine der beiden Seiten vollständig auszuschalten. Es ist klar,
daß in einem solchen Falle das Ausmaß der verfügbaren Reserven, die Versorgungsorganisation,
insbesondere die Seestreitkräfte und das allgemeine industrielle Potential von entscheidender Bedeutung sein könnten."
Quelle: Helmut Schmidt: Verteidigung oder Vergeltung, Seewald Verlag, Stuttgart-Degerloch 1961, S. 91