Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher
Aussage von Alfred Balachowsky



"Vorsitzender:
Wie heißen Sie?

Zeuge Alfred Balachowsky:
Alfred Balachowsky.

Vorsitzender:
Sind Sie Franzose?

Balachowsky:
Ich bin Franzose.

Vorsitzender:
Wollen Sie den folgenden Eid leisten: Sie schwören, ohne Haß oder Furcht zu sprechen und die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit, nur die Wahrheit. Heben Sie Ihre rechte Hand auf und sagen Sie: Ich schöre.

Balachowsky:
Ich schöre.

Vorsitzender:
Sie können Platz nehmen, wenn Sie wünschen.

Balachowsky:
Nein, danke.

M. Dubost:
Sie heißen Balachowsky, Alfred B-a-l-a-c-h-o-w-s-k-y

Balachowsky:
Jawohl.

M. Dubost:
Sie sind Laboratoriumschef im Pasteur-Institut in Paris?

Balachowsky:
Ja.

M. Dubost:
Sie wohnen in Viroflay und wurden am 15. August 1909 in Korotcha in Rußland geboren?

Balachowsky:
Jawohl.

M. Dubost:
Sind Sie Franzose?

Balachowsky:
Jawohl.

M. Dubost:
Von Geburt?

Balachowsky:
Von Geburt Russe und naturalisierter Franzose.

M. Dubost:
Wann wurden Sie naturalisiert?

Balachowsky:
Im Jahre 1932.

M. Dubost:
Sie wurden am 16. Januar 1944 verschleppt, nachdem Sie am 2. Juli 1943 verhaftet worden waren und sechs Monate in den Gefängnissen von Fresnes und Compiègne verbracht hatten. Von dort kamen Sie in das Lager Dora?

Balachowsky:
Jawohl.

M. Dubost:
Können Sie uns kurz sagen, was Sie über das Lager Dora wissen?

Balachowsky:
Das Lager Dora liegt fünf Kilometer nördlich der Stadt Nordhausen. Dieses Lager wurde von den Deutschen als ein "geheimes Kommando" betrachtet, das heißt als "Geheimkommando"; in diesem Lager waren die Gefangenen interniert und kamen nicht wieder heraus. Dieses Geheimkommando war damit beauftragt, V-1 und V-2 herzustellen, die Vergeltungswaffen, jene Torpedos, die die Deutschen auf England losließen. Deshalb war Dora ein Geheimkommando. Das Lager bestand aus zwei Teilen, in dem äußeren Teil befand sich ein Drittel der Gesamtbelegschaft des Lagers, während sich die übrigen zwei Drittel in der unterirdischen Fabrik aufhielten. Dora war also eine unterirdische Fabrik für die Herstellung von V-1 und V-2. Ich kam am 10. Februar 1944 aus Buchenwald nach Dora.

M. Dubost:
Sprechen Sie bitte langsamer. Wann sind Sie in Dora, von Buchenwald kommend, eingetroffen?

Balachowsky:
Am 10. Februar 1944, das heißt zu einer Zeit, in der das Leben in Dora besonders schwer war. Wir wurden am 10. Februar 76 Mann hoch in ein großes deutsches Lastauto verfrachtet. Man zwang uns zusammengekauert zu sitzen, und im Vorderteil des Wagens nahmen vier SS-Wachen Platz. Da wir uns nicht alle im Innern des Wagens zusammenkauern konnten, weil wir zu viele waren, bekam jeder, der sich aufrichtete, einen Schlag mit dem Gewehrkolben über den Kopf. So wurden mehrere von uns während dieses Transportes, der vier Stunden dauerte verletzt.
Nachdem wir im Lager Dora selbst angekommen waren, verbrachten wir ungefähr einen ganzen Tag und eine Nacht ohne jede Nahrung bei Kälte und Schnee mit der Abwicklung der Lager-Aufnahmeformalitäten: Ausfüllen von Formularen mit Name, Vorname und so weiter. Im Vergleich zu Buchenwald war Dora etwas ganz anderes, denn die allgemeine Leitung des Lagers Dora war Gefangenen einer Sonderstufe anvertraut, und zwar Verbrechern. Verbrecher waren unsere Blockleiter, und Verbrecher verteilten unsere Suppe und bekümmerten sich um uns. Diese Verbrecher trugen als Abzeichen ein grünes Dreieck, im Gegensatz zum roten Dreieck der politischen Verbrecher. Auf dem grünen Dreieck war ein schwarzes "S". Wir nannten sie S-Leute, Sicherheitsverwahrte, das heißt Verbrecher, die lange vor dem Kriege von deutschen Gerichten wegen Verbrechen verurteilt worden waren. Anstatt nach Abbüßung ihrer Strafe nach Hause entlassen zu werden, sollten sie lebenslänglich in Konzentrationslagern zurückbehalten werden, und zwar gerade als Stammpersonal für andere Gefangene.

Vorsitzender:
Sie sprechen zu schnell. Bitte, fahren Sie langsamer fort.

Balachowsky:
Ich brauche nicht besonders zu sagen, daß diese Kategorie, diese Verbrecher mit dem grünen Dreieck, üble Elemente waren, die fünf, zehn oder gar fünfzehn Jahre Zuchthaus hinter sich hatten, bevor sie vor fünf oder zehn Jahren in die Konzentrationslager geschickt worden waren; verkommene Subjekte, die keinerlei Hoffnung mehr hatten, je aus dem Lager herauszukommen, und die dank der Hilfe und der Unterstützung seitens der SS-Führung des Lagers die Möglichkeit hatten, vorwärts zu kommen.
Dieses Vorwärtskommen bestand darin, daß sie stahlen, die anderen Gefangenen ausplünderten und ihr Möglichstes taten, um aus ihnen die von der SS verlangte Höchstleistung an Arbeit herauszuholen. Sie schlugen uns von morgens bis abends. Um vier Uhr früh mußten wir aufstehen und in fünf Minuten fertig sein. Wir waren in unterirdischen Schlafsälen ohne Ventilation, in einer verbrauchten Luft in Blocks, die etwa der Größe dieses Saales entsprachen, zusammengepfercht. Dort schliefen dreitausend bis dreitausendfünfhundert Gefangene in fünf übereinander angebrachten Bettenreihen auf verfaulten Strohsäcken, die nie gewechselt wurden. Wir hatten nur fünf Minuten Zeit zum Aufstehen; denn wir legten uns vollständig angezogen schlafen. An Schlafen war jedoch kaum zu denken, denn die ganze Nacht war ein ständiges Kommen und Gehen.
Auch Diebstähle aller Art kamen im Laufe der Nacht bei den Gefangenen vor. Außerdem hinderten uns Läuse und anderes Ungeziefer, von denen es im Lager Dora wimmelte, am Schlafen. Es war praktisch vollkommen ausgeschlossen, sich von Läusen zu befreien. Binnen fünf Minuten mußten wir reihenweise im Tunnel stehen und uns an den vorgeschriebenen Platz begeben.

Vorsitzender:
Einen Augenblick bitte!
Herr Dubost, Sie hatten uns erklärt, daß dieser Zeuge über Versuche aussagen sollte. Er bringt jedoch Einzelheiten über das Leben in Konzentrationslagern an, die wir schon mehrfach gehört haben.

M. Dubost:
Über Dora hat noch niemand ausgesagt, Herr Vorsitzender."


Quelle:
Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg
Veröffentlicht in Nürberg 1947
Band VI (45. Tag), S. 336ff.